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Latein war von der klassisch-römischen Antike bis weit hinein in das europäische Mittelalter und Frühe Neuzeit eine Sprache gelehrten Wissens. Insbesondere Dissertationen und Disputationen, die als Textgattung an den europäischen Universitäten des Mittelalters formal entstanden waren, sollten sich bis in die Frühe Neuzeit zu einer Textsorte entwickeln, in der nicht nur hochspezialisierte akademische Debatten geführt wurden, sondern – auf Latein – auch Themen und Probleme in gelehrter Weise verhandelt wurden, die den ganz konkreten Alltag der Dozenten und Studenten betrafen. Seien es hochgradig ansteckende Krankheiten wie die Pest, Luxusgüter wie Kaffee, Tee oder Schokolade, die Erklärung von Ebbe und Flut, Erdbeben, Magneten, Kometen, Schwerhörigkeit, oder etwa theologisch-moralische Probleme wie der Suizid oder eben auch schwierige Stellen in Vergil, Tacitus oder etwa religiöse Grundlagentexte wie die jüdischen, islamischen oder christlichen: die frühneuzeitlichen Professoren und Studenten disputierten darüber auf Latein. Diese lateinischen Dissertationen sind, da sie jedes Semester aufs Neue an allen damaligen europäischen Universitäten als Disputationen von Studenten verteidigt wurden, in einer unüberschaubaren Zahl gedruckt und zu den verschiedensten Themen überliefert worden. Sie umfassen mal nur 10-15, mal aber auch bis zu 60 oder 100 Quartseiten und waren auf unterschiedliche Anlässe des universitären Tagesgeschäfts zugeschnitten. Oft traten die Professoren, mitunter aber auch die Studierenden als Autoren (und in wenigen Fällen auch als Autorinnen) in Erscheinung. Sie bieten daher eine unerschöpfliche Quelle für die frühneuzeitliche Kultur- und Universitätsgeschichte, für die Wiederaneignung antiken Wissens, aber auch die Genese der neuzeitlichen Wissenschaften und Künste. Der Umstand, dass Bibliotheken und Archive weltweit ihre Bestände bereits zu großen Teilen digitalisiert haben, macht es für die Klassische wie Mittel- und Neulateinische Philologie, die Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie für die Philosophiegeschichte immer dringlicher, diese Textgattung in ihrer historischen Bedeutung angemessen zu würdigen. In diesem Seminar wollen wir exemplarisch zu gemeinsam abgestimmten Themen lateinischsprachige Dissertationen (auch mit bereitgestellter Übersetzung) lesen und erschließen. Ziel des Seminars soll es sein, dass wir uns einen Zugang zur Charakteristik dieser Textgattung erarbeiten, um mit ihr als Text und Quelle kritisch umgehen zu können. Dazu werden wir auf die Besonderheiten der darin praktizierten lateinischen Wissens- und Wissenschaftssprache eingehen, die sich von der Renaissance bis zur Aufklärung wieder am Latein der antiken Klassiker orientieren sollte, vor allem aber auch auf sozial- und ideengeschichtliche Kontexte des frühneuzeitlichen Universitäts- und Wissenschaftssystems, die für die Interpretation der Texte von erheblicher Bedeutung sind. Nicht zuletzt werden wir auch disputierende Frauen der Frühen Neuzeit lesen und der Frage nachgehen, wie sie sich im frühneuzeitlichen Wissenschaftsbetrieb produzieren konnten. Das Seminar richtet sich an Lehramtsstudierende und Wissenschaftsstudierende gleichermaßen. Lateinkenntnisse sind für das Seminar von Vorteil, bilden aber explizit kein Ausschlusskriterium. Affine Fächer, wie etwa Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie sowie andere Geistes- oder auch Naturwissenschaften sind ausdrücklich willkommen, da wir so auch die notwendige interdisziplinäre Perspektive auf frühneuzeitliche Dissertationen und Disputationen im Seminar abbilden können. In der ersten Sitzung erfolgt die Vorstellung des Semesterplans. Dieser bildet eine Diskussionsgrundlage, aufgrund der wir in der ersten Sitzung das Programm zusammen festlegen werden.