Anima – Entwürfe der Seele von Aristoteles bis Agamben

Humboldt-Universität zu Berlin

Organisatorisches

Kurstyp
SE
Semester
SoSe 2023
Standort
DOR 24, 1.608
SWS
2
Start
Rhythmus
wöchentlich
Tag
Di
Zeit
10-12
E-Mail
marie.guthmueller@hu-berlin.de, martina.bengert@hu-berlin.de

Details

Die Seele (anima, soul, alma, âme ...) ist ein Begriff, der die Kulturgeschichte seit ihren Anfängen prägt. Ob aus der Perspektive der Theologie, Philosophie, Psychologie oder Psychoanalyse – die Seele scheint eine grundlegend anthropologische Dimension und zugleich eine Chiffre für jenes nicht zu Verortende zu sein, das den Menschen ausmacht. Doch was ist unter Seele zu verstehen – und was wurde darunter verstanden? Bei Platon ist die unsterbliche Seele ihrem sterblichen Körpergefängnis klar übergeordnet, bei Aristoteles vollendet sie den Körper, bei den Stoikern wird sie als eine Art Oktopus gedacht, der sich vom Kopf aus mit seinen sieben Teilen in den Körper erstreckt. Insbesondere in mystischen Traditionen wird die Seele als ebenso paradoxaler wie unendlicher Innenraum gedacht, der zu ergründen und zu gestalten ist, um so irgendwann eine Begegnung mit Gott zu ermöglichen, die Innen und Außen eins werden lässt. Was die meisten Texte über die Seele vereint, ist, dass sie die Seele in ihrem Verhältnis zum Körper denken. Auch Descartes beschreibt – aus medizinisch-physischer Perspektive – in seinen Passions de l’âme (1649) das komplexe Wechselverhältnis von Seele und Körper. Jacques Derrida bezeichnet das im Jahr 2000 unter dem Titel Corpus veröffentlichte Buch seines kürzlich verstorbenen Kollegen Jean-Luc Nancy als „De anima unserer Zeit“. Giorgio Agamben verkoppelt seine Lektüre von De anima mit Fragen des Lebens an sich. Aber spätestens seit Descartes ist die Seele auch Anfechtungen ausgesetzt, verlieren ihre ontologischen und spirituellen Dimensionen innerhalb der Wissenschaften zunehmend an Terrain. 1876 fordert Théodule Ribot programmatisch, als positive Wissenschaft habe die Psychologie – endlich – eine psychologie sans âme, eine Psychologie ohne Seele zu sein. Tatsächlich verabschiedet die Psychologie, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Frankreich wie anderswo von der Philosophie abspaltet, um zu einer autonomen Disziplin an den Universitäten zu werden, ihren traditionellen Gegenstand. Nachdem die Seele bereits zuvor Fakultät für Fakultät, Funktion für Funktion in die Domäne der Erfahrungswissenschaften gefallen ist, wird sie, fortan als ›Psyche‹ bezeichnet, gänzlich von einer metaphysischen Entität in einen Empfindungs- und Wahrnehmungsapparat transformiert. Was verlieren die sciences de l’âme, wenn sie mit dessen ontologischen, spirituellen und auch ethischen Dimensionen ihren traditionellen Untersuchungsgegenstand aufgeben und als Psychowissenschaften zu Wissenschaften ohne Seele werden? Und welche Reaktionen rufen diese Entwicklungen hervor? Lässt sich die Ausbildung okkultistischer, spiritistischer und neo-mystischer Strömungen innerhalb (Frederic W. H. Myers, William James) und außerhalb von Psychologie und Philosophie in diesem Kontext verorten? Kann gar die Entstehung und Institutionalisierung der Psychoanalyse, kann ihr provokantes Anknüpfen an das hermeneutische Deutungsparadigma als Reaktion auf diesen Verlust verstanden werden? In unserem Ringseminar wollen wir zusammen mit sieben Expert*innen aus den unterschiedlichen Fachgebieten polyphone Seelenentwürfe von der Antike bis ins 21. Jh., von Aristoteles bis Agamben miteinander in Resonanz bringen. Dabei werden wir einerseits Seelenentwürfe untersuchen, in denen die Seele einen persönlichen Innenraum der Erfahrung (Gottes) bildet, andererseits Entwürfe der Seele als (wissenschaftlich) analysierbaren Raum. Wissenshistorische wie systematischen Zugänge sollen dabei gleichermaßen erprobt und zueinander in Beziehung gesetzt werden.