Forschungskolloquium zur Wissenschaftsgeschichte

Populationen, Individuen und Induktion in der medizinischen Erkenntnislehre des 19. Jahrhunderts

Datum
16:00 - 18:00 Uhr
Ort
TU Hauptgebäude, Straße des 17. Juni 135, Raum H3002
Veranstaltet von
Adrian Wüthrich (TU Berlin)
Vortragende Person(en)
Raphael Scholl (History and Philosophy of Science, Cambridge)

Im Forschungskolloquium werden zum einen laufende Examensarbeiten und Promotionsprojekte vorgestellt und diskutiert, zum anderen kommen in eingeladenen Vorträgen aktuelle Forschungsthemen der Wissenschaftsgeschichte zur Sprache. Das Kolloquium steht allen Interessierten offen und richtet sich besonders auch an Masterstudierende. Masterstudierende, die einen Vortrag halten möchten, mögen sich bitte spätestens im Ende März beim Leiter des Forschungskolloquiums melden.

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Raphael Scholl: Populationen, Individuen und Induktion in der medizinischen Erkenntnislehre des 19. Jahrhunderts

Der französische Arzt und Wissenschafter P. C. A. Louis (1787—1872) vertrat die Ansicht, dass sich die Wirksamkeit von therapeutischen Eingriffen nur durch den Vergleich von Patientengruppen nachweisen lässt. Er begründete dies unter anderem damit, dass sich die unausweichlichen Unterschiede zwischen individuellen Patienten im Gruppenvergleich gegenseitig ausgleichen. Seine Gegner, zu denen der Pathologieprofessor B. J. I. Risueño d’Amador (1802—1847) gehörte, hielten Gruppenversuche hingegen für sowohl unwissenschaftlich als auch nutzlos. Unwissenschaftlich, weil sie uns Wahrscheinlichkeiten darüber lieferten, welcher Anteil der Patienten in einer Gruppe von einer Behandlung profitieren wird, aber kein ursächliches Wissen darüber, wie die Behandlung wirkt. Nutzlos, weil uns Gruppenversuche keine Auskunft darüber gaben, welche Patienten von einer Behandlung profitieren werden und welche nicht. In der Literatur wird Louis in der Regel als Vorläufer der heutigen evidenzbasierten Medizin gefeiert, während Risueño d’Amador als Reaktionär gilt, der sich aus persönlichen oder professionellen Gründen gegen die aufkommende Statistik wehrte. In meinem Vortrag will ich diese Interpretationen ausgleichen. Louis’ Methode kam nicht ohne starke ontische Annahmen über die Zusammensetzung von Versuchsgruppen aus, deren empirischer Nachweis offenblieb. Umgekehrt formulierte Risueño d’Amador sehr wohl kohärente Ziele für die medizinische Forschung, auch wenn seine eigenen methodologischen Vorstellungen diese Ziele nicht erreichen konnten. Ich werde zeigen, dass der französische Physiologe Claude Bernard (1813—1878) eine plausible Synthese der zwei Pole der Debatte vorschlug. In der Debatte ging es letztlich um nichts Geringeres als das Wesen des induktiven Schließens.

Raphael Scholl studierte Humanmedizin, sowie Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Bern. Er ist derzeit Doktorand am Department of History and Philosophy of Science der Universität Cambridge und Habilitand in Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Erkenntnislehre und Methoden der Lebenswissenschaften und die Methodologie der integrierten Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte.