PD Dr. Sibylle Benninghoff-Lühl
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„Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich Dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt rückt’s auf einmal, und meine stille Freude ist unaussprechlich.“ (J.W. Goethe an Charlotte von Stein am 15. 6. 1761.) Ist Natur überhaupt lesbar? Wäre sie ähnlich wie ein fremder und schwieriger Text zu „buchstabieren“? Wäre dann alles, die ganze Welt, buchstäblich lesbar (Blumenberg)? Welche Rolle spielt für die Lesbarkeit des „Buchs der Natur“ die Unlesbarkeit, das, was im strengen Sinne des Wortes nie geschrieben wurde (Benjamin)? Und: wie liest man in Bücher gepresste und eingeklebte Präparate? Als Hieroglyphen oder Ideogramme (Jünger)?
Das Seminar fokussiert auf die Schnittstelle zwischen Text/Buch und Natur. Dabei kommen AutorInnen zur Sprache, die ein ausdrückliches Interesse an Insektenkunde, Botanik und Mineralogie hatten. Neben Ausschnitten aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften lesen wir Texte von Carl von Linné, Jacob und Wilhelm Grimm, Adelbert von Chamisso, Emily Dickinson, Jean-Henri Fabre, Vladimir Nabokov und Ernst Jünger. Im Verlauf des Seminars wird sich zeigen, dass das „Buch der Natur“ mehr ist als eine Metapher. Seine konkrete Materialität in Form von Blüten, Blättern und Faltern und eben auch von Buchstaben als Realien regt zur Erforschung eines Begriffs des Lesens an, das nicht nur entdeckt, vielmehr auch sich selbst, den Prozess des Forschens und Entdeckens, reflektiert. Lesen gestaltet sich mit überraschenden Wendungen, Verstellungen wie eine „Schmetterlingsjagd“, die plötzlich ihr „Revier im Rücken“ hat (Benjamin).
H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981.