Geschichte als „Angewandte Digitale Nekromantie“? Über Grenzen und Möglichkeiten geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis am Beispiel historischer Simulationen

Humboldt-Universität zu Berlin

Information

Course Type
UE
Semester
SoSe 2025
Location
Doro26, 117
SWS
2
Start
Day
Di
Time
14-16
Registration
max. 30
E-Mail
jascha.schmitz@hu-berlin.de

Details

Welche Faktoren haben zur Industrialisierung in Europa geführt? Wie haben sich Pandemien im Mittelalter augebreitet und die betroffenen Gemeinden verändert? Wie haben Briefnetzwerke in der Frühen Neuzeit zur Ausbreitung und Transformation aufklärerischen Wissens geführt? Wie genau mag sich die Degradation der Umwelt mayanischer Stadtstaaten abgespielt haben und wie waren diese betroffen? Diese beispielhaften, weit reichenden Fragen über das „Wie“ und „Warum“ der Geschichte liegen im Kerninteresse von HistorikerInnen. Aber wie kommt man hierbei zu Antworten, oder zumindest zu Interpretationen und Hypothesen? Klassischerweise – das heißt in vor allem textgebundenen, hermeneutischen Vorgehen – suchen wir relevante materielle Indizien und zeitgenössische Einschätzungen und versuchen, durch einen mentalen, inneren Prozess der Kritik, Reflexion und Interpretation zu einer immer vorläufigen Antwort(möglichkeit) zu kommen, die schließlich zu Text gebracht wird. In vielen anderen Wissenschaften hat sich genau in Bezug auf solche strukturellen, prozessualen und systemischen Fragen eine andere, computerbasierte Methode etabliert – die Simulation. Hierbei wird die Forschungsfrage und das zu untersuchende Objekt bzw. System modelliert, das heißt, in vereinfachter und computerlesbarer Form repräsentiert. Mit diesem Modell können dann Experimente unter verschiedenen Bedingungen vollführt werden, um die Objekte, Personen und Prozesse der Geschichte Stück für Stück besser zu verstehen. Simulationen sind inzwischen allgegenwärtig. Sei es in Klima- und Pandemiemodellen, der Erforschung des Weltalls, der Überwachung und Steuerung weltweiter Märkte, der Stadt- und Verkehrsplanung, bis hin zum Design von Gebäuden und Gebrauchsgegenständen, dem Berufstraining oder der Entwicklung von Computerspielen – seit ihrer Entstehung im Kontext des Manhatten-Projekts haben sich Simulationen als einer der zentralen Methoden von Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Politik entwickelt, Sinn und Erkenntnis aus der Welt zu ziehen. In den Geschichtswissenschaften sind Simulationen eine kaum verbreitete, eine „dunkle Kunst“ (vgl. Graham). Aber warum nutzen wir als HistorikerInnen diese Methode (fast) nicht? Warum werden Simulationsmethoden nicht nur nicht genutzt, sondern von manchen BeobachterInnen sogar als antithetisch zu den Zielen und Grundwerten der Geschichtswissenschaften gesehen (Vgl. Scheuermann 2023)? Entfremdet uns diese „dunkle Kunst“ der „digitalen Nekromantie“ (vgl. Graham 2020) von der Geschichte und ihren Akteuren? Und, um weiter in dieser ironisch zu verstehenden Metapher zu bleiben: Welche verbotenen Geheimnisse können wir dieser dunklen Kunst entlocken, ohne uns als HistorikerInnen intellektuell zu korrumpieren? Diesen Fragen und ihren vielfältigen Implikationen für unser Arbeiten wollen wir in diesem Kurs nachgehen und Sie werden selbst die konzeptuellen und technischen Grundlagen der Methode erlernen. Dabei werden uns fundamentale Fragen unserer Wissenschaft begegnen, unter anderem, was historisches Arbeiten eigentlich bedeutet, was Zweck und Ziele historischer Forschung sind und sein können, Fragen über Aushandlungsprozesse in der Wissenschaft, unsere Position als junge WissenschaftlerInnen in ihnen und nicht zuletzt, was Grenzen und Möglichkeiten historischer Erkenntnis insgesamt sind. Der Kurs richtet sich vor allem an fortgeschrittene Masterstudierende. Programmierkenntnisse sind kein Muss, aber für manche der praktische Übungen von Vorteil.
Literature

Gavin, Michael. „Agent-Based Modeling and Historical Simulation“. Digital Humanities Quarterly 008, Nr. 4 (20. Dezember 2014): 195. Jascha Merijn Schmitz: Simulation. In: AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. (Hg.): Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). Wolfenbüttel 2023. 25.05.2023. Version 2.0 vom 16.05.2024. HTML / XML / PDF. DOI: 10.17175/wp_2023_011_v2 Wachter, Kenneth W., und Eugene A. Hammel. „The Genesis of Experimental History“. In The World We have Gained: Histories of Population and Social Structure. Essays Presented to Peter Laslett on his Seventieth Birthday., herausgegeben von Lloyd Bonfield, Richard M. Smith, und Keith Wrightson. Oxford: Basil Blackwell Ltd, 1986. Scheuermann, Leif. „Über die Rolle computerbasierter Modellrechnungen und Simulationen für eine digitale Geschichte“. In Digital History. Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft., herausgegeben von Karoline Dominika Döring, Stefan Haas, Mareike König, und Jörg Wettlaufer, 6:107–18. Studies in Digital History and Hermeneutics. Berlin ; Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022. https://doi.org/10.1515/9783110757101-006. Graham, Shawn. An Enchantment of Digital Archaeology: Raising the Dead with Agent-Based Models, Archaeogaming and Artificial Intelligence, New York, Oxford: Berghahn Books, 2020. https://doi.org/10.1515/9781789207873 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, mit einem Vorwort von M. Riedel, Frankfurt am Main 2006.